Motorradtour kompakt

Böhmische Schweiz

Am Anfang einer Reise steht oft die Frage: ins Gebirge oder ans Meer? Eine Tour in die Böhmische Schweiz bringt beide Ziele unter einen Hut.

Mich wird es immer wieder ins Gebirge locken, schon wegen der kurvenreicheren Strecken. Das Meer kommt dabei allerdings zu kurz. Was liegt da näher, als einmal eine Tour ans Meer oder besser gleich auf den Meeresgrund zu machen?

Als unschätzbarer Vorteil erweist sich, dass mein angepeiltes Stück Meeresgrund inzwischen durch ein paar plattentektonische Verschiebungen trockengefallen ist. Das ehemalige Wassergrundstück liegt derzeit 550 Kilometer vom nächsten Meer entfernt am nördlichen Rand der Tschechischen Republik: Die Böhmische Schweiz, die südliche Fortsetzung der Sächsischen Schweiz. Tektonische Ereignisse haben dieses Gebiet nicht nur trockengelegt, sie haben es sogar in den Status eines Gebirges erhoben. Frost, Wind und Wasser haben an dieser herausgehobenen Sandsteinplatte gesägt, gemeißelt und geschliffen. Dabei entstand ein Labyrinth aus Felsen, durch das sich Flüsse, Wege und vor allem kleine Straßen schlängeln.

Motorradtour kompakt – Böhmische Schweiz
Reiseinformationen und Karte

Der Wetterbericht kündigt zwar nachlassende Temperaturen an, die Badehose kommt aber  trotzdem mit – schließlich fahre ich ans Meer. Nach einer Visite in der Sächsischen Schweiz nähere ich mich der Grenze. Nach Sichtung meines Passes will ich los, als ich die Worte höre: »Sie haben etwas vergessen!«. Ich schaue in meine Taschen und um mich herum. Alles da, nichts runtergefallen. Verständnislos blicke ich ins zollernste Gesicht des tschechischen Beamten, sein Zeigefinger tippt auf meine Lampe: »Sie müssen machen Licht an, sie werden fahren durch dunkle Wälder«.

Mit eingeschaltetem Licht steuere ich mein erstes Ziel an: Krasna Lipa, das Tor zur Böhmischen Schweiz mit Touristeninformation und Museum. Für einen Museumsbesuch ist das Wetter zu schön, aber in der Information bekomme ich Karten und Tipps zum Übernachten. Kurz hinter Krasna Lipa verschwinde ich auf einer kleinen Straße Richtung Doubice im Wald. Als ich auf der anderen Seite wieder herausrolle, hat sich die Welt verändert. Verstreut auf einer großen Wiese kuscheln sich gepflegte Fachwerkhäuschen, ein Bach gluckert durch die Wiese und das Sträßchen sucht sich beschwingt seinen Weg.

Noch ehe ich die Idylle richtig begreife, hat mich der Wald wieder. In wilden Kurven geht es zwischen Bäumen hindurch, haarscharf an über die Straße ragenden Felsen vorbei. Einige Serpentinen katapultieren mich hinauf auf eine hügelige Wiese. Wieder zieren einzelne Häuschen die Landschaft. Die Mittagshitze flimmert über dem welligen Asphalt. Alles wirkt perfekt und friedlich, selbst die Berge sind sanft und gleichmäßig geformt. Plötzlich, nach einer jähen Kurve, stürzt der Weg wieder hinab in finsteren Wald. Durch meine Jacke geht eine belebende Kühle, fast so erfrischend wie ein Bad im Meer. Rechts neigt sich ein großer Felsen über die Straße, und ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden.

Tatsächlich: Oben auf dem Felsen sitzt ein Zwerg auf einem riesigen Stein. Eine steile Treppe führt zwischen den Felsen zu ihm hinauf,und in der Felswand lauern noch weitere Zwergenskulpturen. Wie ich später erfahre, hat der Volkskünstler Ernest Wahr 1833 die Gestalten aus dem Felsen gemeißelt.

Zwerge hin oder her – der Hunger drängt mich zur Weiterfahrt. Kaum sitze ich wieder auf der Maschine, nimmt mich die Landschaft gefangen. Bis ans Ende aller Straßen könnte ich so weiterfahren, stets im Wechsel zwischen den fast ausnahmslos aus kleinen Holzhäusern bestehenden Orten, sonnendurchfluteten Wiesen und kühlen Wäldern. Das Ende meiner Straße, mitten in Mezna, kommt abrupt. Beim Blick auf das kleine Restaurant mit schattiger Terrasse knurrt sofort mein Magen, und kurze Zeit später sitze ich vor einem riesigen Teller Gulasch, Kraut und Knödeln.

Über die Orte Ruzova und Srbska Kamenice fahre ich in einer zauberhaften Schleife zurück nach Jetrichovice, wo sich meine kleine Holzhaus-Wunschpension namens »Stary mlyn« befinden soll. Aber ein kleines Holzhaus inmitten vieler kleiner Holzhäuser zu suchen, ist gar nicht so einfach. Dank der auf deutsch angebotenen Hilfe finde ich meine Unterkunft und bekomme sogar noch ein Zimmer, was in einer Vierzimmer-Herberge einem Fünfer im Lotto gleichkommt. Das überschaubare Nachtleben von Jetrichovice bietet die Möglichkeit, mal ein paar der leckeren böhmischen Biersorten kosten.

Am nächsten Tag will ich die andere Seite der Böhmischen Schweiz jenseits der Elbe erkunden. Die einzige Möglichkeit der Flussüberquerung findet sich in Decin. Mit dieser Stadt verbinde ich keine guten Erinnerungen; vor vielen Jahren habe ich mich an einem regnerischen Herbsttag dort hoffnungslos verfahren. In einem Gewirr von Nebenstraßen verschollen, fand ich keinen Ausweg aus dem Moloch. Jede der grauen, bröckligen Fassaden schien das Wort Ostblock mit einem hundertfachen Echo zurückzuwerfen, durch die Straßen zog ein ätzender Geruch von Auto- und Fabrikabgasen.

Mit dieser Erinnerung mache ich mich auf den Weg, nur dass diesmal die Sonne scheint, und wenn es zu schlimm wird, kann ich ja jederzeit in mein kleines Paradies zurück. Zwischen dem Paradies und der Stadt liegt wieder ein langes Stück Wald. Dann die ersten Vororte, die erste Kreuzung – bestens ausgeschildert. Etwas später überquere ich die Elbe auf einer mehrspurigen Straße. Entlang einer perfekten Ausschilderung hangele ich mich durch die inzwischen ansehnliche Stadt. Nichts entspricht mehr meiner Erinnerung. Trotzdem bin ich froh, dass ich im nächsten Ort die Hauptstraße Richtung Sneznik verlassen kann. Sneznik ist der mit 722 Metern höchste Berg und als großer Tafelberg sicher das besterhaltene Stück Meeresgrund.

Zunächst aber stehen die »Tyssaer-Wände« auf dem Programm. Mit meiner kompletten Fotoausrüstung am Hals entrichte an einer kleinen Hütte den eher symbolischen Eintrittspreis, erhalte dafür eine kleine Karte und das Angebot, Helm und Jacke dazulassen. Erleichtert stiefele ich los. Obwohl die Wanderung letztlich nur fünf Kilometer lang ist, benötige ich mehrere Stunden. Fasziniert stehe ich immer wieder vor siebzig Meter hohen Felstürmen, zwänge mich durch enge Schluchten und Höhlen, bewundere skurrile Felsformationen.

Auf dem abendlichen Rückweg halte ich in einem felsengesäumten Tal, um zu fotografieren. Während ich am Stativ schraube, nähert sich ein älterer Herr. Er schaut mir eine Weile zu und fragt dann, ob es mir hier gefällt. Ja, natürlich. Ich erzähle ihm etwas von den tollen kleinen Straßen, den Wiesen, den Fachwerkhäuschen, den Wäldern und imposanten Felsen, die mir manchmal beim Fahren fast am Helm kratzen.

Daraufhin zeigt er mir das unter einer dichten Pflanzendecke kaum erkennbare Fundament eines Hauses. Hier habe er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens verbracht; auf der Wiese da drüben beackerte die Familie drei winzige Felder. Sein Vater unterhielt eine kleine Werkstatt, Feld, Haus und Werkstatt waren seine Welt. Die Natur mit ihren Felsen und dichten Wäldern habe er damals eher als Hindernis aufgefasst, erzählt er. Erst jetzt als Tourist entdecke und genieße er die überwältigende Schönheit dieser Landschaft. Spontan frage ich, ob es ihm am Meer auch gefallen würde. Die Antwort kommt prompt: Nein, er sei im Gebirge aufgewachsen und fühle sich nur dort wohl.

Meine Abschiedsrunde bringt mich am nächsten Tag noch einmal bis nach Decin, von wo aus ich entlang der Elbe Richtung Norden fahre. Immer wieder betrachte ich den großen Fluss, der sich träge seinen Weg durch die Berge und Felsen bahnt. Die Elbe ist das letzte große Süßwasser vor dem Meer und hat dafür gesorgt, dass aus einem uralten Stück Meeresgrund die Böhmische Schweiz entstand.

Am Grenzübergang passiert dann das, was ich in Mitteleuropa nicht mehr für möglich gehalten hätte und was als Witz einen langen Bart hat: »Gänsefleisch moa’n Goffer effnen?«. Der Zöllner will tatsächlich den Inhalt meiner Koffer sehen, wobei meine Badehose auftaucht. Schuldbewusst verspreche ich ihr: Die nächste Tour geht bestimmt ans Meer, oder besser vielleicht gleich ins Meer, auf den Meeresgrund.

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