Motorradtour kompakt

Niederrhein

Böse Zungen sagen, hier passiere alles 50 Jahre später. Doch es ist gerade die unaufgeregte Sanftheit und die Ruhe, die den Reiz des platten Landes am Nieder rhein ausmachen – des Landes der Mythen und Windmühlen.

 

Touren-Tipp Niederrhein

Was willste denn da?«, entfährt es mir, als mich Stefan fragt, ob ich Lust auf eine Tour zum Niederrhein habe. »Wiesen, Felder, Alleen, Kühe« schießt es mir durch den Kopf, »und der Motorradspaß bleibt auf der Strecke – im wahrsten Sinne des Wortes«. Nun ja. Wir verabreden uns also am Landschaftspark Duisburg- Nord, einem zum Industriedenkmal und Freizeitpark um gewandelten Stahlwerk mit frei begehbaren Hochöfen, einem zum Tauchbecken umgebauten Gasometer und einem Erzbunker, der jetzt als Kletterpark genutzt wird.

Ich treffe zu früh ein, schlendere durch die beeindruckende Anlage, erklimme Hochofen Nummer fünf und erhasche aus geschlagenen 70 Metern Höhe beeindruckende, wenn auch stellenweise beklemmende Ausblicke über den Industriemoloch Duisburg. Schön ist anders, trotzdem zieht mich die Brache unweigerlich in ihren Bann. Denn sie verströmt eine spröde Industrie romantik und mir kommt es vor, als höre man noch das Getöse der Pressluftmeißel, als rieche man noch den Gestank und spüre die schier unerträgliche Hitze beim Abstich des Roheisens.

Hitze beim Abstich des Roheisens. Ich treffe Stefan und wir verlassen das Ruhrgebiet nordwärts. Schnell wandelt sich die Gegend – aus drögen Autobahnen werden rasch lange, grüne Alleen, aus Industrieschloten werden historische Windmühlen, und smogverhangene Großstädte werden zu kleinen, beschaulichen Dörfern. Das triste Grau Duisburgs weicht einem satten Grün und mir ist, als verlangsame sich die Zeit mit jedem Kilometer

Motorradtour kompakt – Niederrhein
Reiseinformationen + Karte

Ein Schmunzeln kann ich mir nicht verkneifen, als ich einen Hinweis auf die »Sonsbecker Schweiz« lese. Der üppige Höhenzug misst an der höchsten Stelle stolze 87 Meter! Immerhin, etwas höher als der Hochofen, den ich gerade erklommen habe. Hektisch geht es in Kevelaer zu. 1642 wurde die Stadt von der katholischen Kirche zum Wallfahrtsort erhoben. Bald setzten große Pilgerströme ein. Heute hoffen 800.000 Fromme pro Jahr auf den himmlischen Segen durch eine Pilgerreise an den Niederrhein. Glasklar, dass auch die Geschäftsleute den einen oder anderen Pilger-Dollar an dem Rummel verdienen wollen. »Kommerz«, sind wir uns einig, nehmen Reißaus und wenden uns Xanten zu. Der grüne Baldachin der Alleen und die Windmühlen, die gleichsam freundlich grüßend ihre Flügel in den stahlblauen Himmel strecken, entschädigen uns dafür, dass die Reifenflanken heute etwas seltener zum Einsatz kommen.

In Xanten gibt es an jeder Ecke Geschichte zum Anfassen – kein Wunder, die Stadt ist über 2000 Jahre alt. Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus diente hier ein Römerlager als Stützpunkt für die Feldzüge gegen das rechtsrheinische Germanien. Im Archäologischen Park kann man Wissenschaftlern bei Ausgrabungen über die Schulterblicken, die Säule des Hafentempels ist heute als eines der Wahrzeichen Xantens weltbekannt. Um Xanten ranken sich vielerlei Mythen. In der Nibelungensage liegt der Hof des Helden Siegfried in der Stadt. Nach einem Bummel durch die Altstadt und zur Kriemhildmühle, einem zur Windmühle umgebauten Wehrturm, nehmen wir wieder Asphalt unter die Räder.

Wir staunen nicht schlecht, als wir innerhalb weniger Kilometer Südsee UND Nordsee passieren. »Die Welt ist klein«, denke ich amüsiert, als wir an den beiden Baggerseen entlangfahren. Ein Stück weiter treffen wir auf Väterchen Rhein, die Lebensader des Landstrichs. In der Ferne hört man die Schreie eines Wasservogels und das rhythmische Tuckern eines Schiffsdiesels. Ansonsten Stille. »Der Rhein ist der Fluss, den alle Welt besucht und niemand kennt«, sagte Victor Hugo einmal. Hier am Niederrhein trifft das definitiv zu. Es ist die unaufgeregte Schlichtheit und die entspannte Ruhe, die diese Region so einzigartig machen.

Hier ticken die Uhren langsamer, man entspannt und lässt die Hektik des Alltags hinter sich. Bald erreichen wir das kleine Mittelalterstädtchen Kalkar, das weniger durch sein eindrucksvolles Stadtbild bekannt wurde als vielmehr durch das 3,5 Milliarden Markteure Kernkraftwerk »Schneller Brüter«, das nie in Betrieb ging. Wir interessieren uns mehr für die Technik der Vergangenheit und besichtigen die Kalkarer Windmühle.
Bei Emmerich überspannt die längste Hängebrücke Deutschlands den Rhein.

In Emmerich passieren wir den Rhein auf der längsten Hängebrücke Deutschlands. »Die Golden Gate«, denke ich, als wir unter den mächtigen Pylonen hindurchfahren. Wir halten uns nordwestlich und cruisen den Rheindeich entlang in Richtung des niederländischen Tolkamer. Die hiesigen Siedlungen wurden in ihrer Geschichte besonders häufig von verheeren den Überschwemmungen heimgesucht.

Auf unserem Weg in Richtung Südosten gelangen wir nach Rees, einem kleinen Schmuckkästchen. Die imposante Rheinpromenade ist al lein schon einen Besuch wert. Im nahen Skulpturenpark stoßen wir auf eine Sonnenuhr, in der der Betrachter selbst als Zeiger fungiert. Und stellen an hand unseres eigenen Schattens fest, dass es Zeit zum Aufbruch ist. Unser Weg führt uns an Vater Rhein entlang, der uns bald abermals in seinen Bann zieht. Die Sonne neigt sich gen Horizont und taucht den Strom in satte Orange- und Rottöne, dazwi schen fahren Schiffe, im glitzernden Wasser einzig an ihrer Silhouette erkennbar, dem Sonnenuntergang entgegen.

Wir drücken auf die Tube, denn es wartet noch ein Leckerbissen auf uns, nämlich am Ausgangspunkt unserer Tour. Die Lichtinszenierung des britischen Künstlers Jonathan Park taucht den Landschaftspark am Wochenende bei Dunkelheit in ein faszinierendes Meer von Licht und Farbe. Das Szenario könnte ei nem Science-Fiction entstammen: Die Hochöfen erinnern an Raumsonden, der Kran wird zum stählernen Monster. Wir staunen – und besteigen abermals Hochofen Nummer fünf. Und wieder bietet sich ein beeindruckender Rundblick, diesmal über das nächtliche Ruhrgebiet und seine in der Ferne pulsierenden Lichter.

Nun liegt eine Tour hinter mir, der ich wenig Chancen eingeräumt hatte, ein Highlight zu werden. Doch der Niederrhein hat mich eindrucksvoll eines Besseren belehrt. Ich bin platt. Platt wie das Land, das ich durchstreift habe. Es wird nicht meine letzte Tour gewesen sein – dort oben, im Land der Stille.

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